Fahrsicherheit : Unfallforscher als Helden der Sicherheit
Bereits 50 Jahre sind mittlerweile vergangenen, seit die Unfallforschungsteams von Volvo und Daimler damit begonnen haben, systematisch detaillierte Informationen über reale Verkehrsunfälle zu sammeln, diese zu analysieren und Konsequenzen daraus zu ziehen.
Den verschiedenen Unternehmensphilosophien entsprechend, unterschied sich die Herangehensweise bei der Unfallforschung im Detail, doch im Mittelpunkt der Arbeit stand damals wie heute bei beiden Unternehmen die Reduktion von Verkehrsunfällen. Das gelingt über die Erhöhung der aktiven und passiven Sicherheit in Fahrzeugen.
Polizeidaten helfen bei Unfallforschung
Zu Anfangs wurde auf die Unterstützung anderer gebaut: So griffen die Entwicklungsingenieure bei Daimler auf Erkenntnisse aus der Unfallforschung zurück - und damit auf Daten, die sie von der Polizei erhielten. Damit standen zunächst die Rekonstruktion und Analyse von Verkehrsunfällen im Vordergrund, die zur Verbesserung der Insassensicherheit herangezogen wurden.
Dank der guten Zusammenarbeit mit Behörden und Polizeistationen vergrößerte sich auch das Einsatzgebiet der Mercedes-Unfallforschung in den folgenden Jahren mehrmals. Heute erstreckt es sich von Baden-Baden bis Ulm, von Mannheim bis Albstadt und von Tauberbischofsheim bis Freudenstadt. Fast 200 Kilometer Luftlinie liegen zwischen den entferntesten Punkten dieses Gebietes.
Zu verstehen, wie es zu Verkehrsunfällen kommt, indem tatsächliche Vorkommnisse eingehend untersucht werden, kann helfen, ein erneutes Auftreten zu verhindern und Menschenleben zu schützen. Die Unfallzahlen sprechen für sich: „Jedes Jahr kommen weltweit 1,35 Millionen Menschen bei Verkehrsunfällen ums Leben. Das ist etwas, das wir sehr ernst nehmen“, erklärt Anna Wrige Berling, Leiterin Verkehrs- und Produktsicherheit bei Volvo Trucks.
Aufkommen von Forschungsteams Anfang der 70er
Untersuchungen von Unfallforschungsteams liefern wertvolle Erkenntnisse, die letztendlich helfen, ein sichereres Arbeitsumfeld schaffen und die Verkehrssicherheit für alle Verkehrsteilnehmer zu verbessern. Volvo hat 1969 seine ersten Unfallforschungsteam eingerichtet, um reale Verkehrsunfälle zu untersuchen.
Von Januar bis Juni 1967 untersuchten wiederum Mitarbeiter des Automobilherstellers Daimler in Zusammenarbeit mit der Polizei schwere Verkehrsunfälle, die sich im Landkreis Böblingen und auf der Autobahn 8 ereignet hatten. Seit Anfang der 70er Jahre haben die Mitarbeiter insgesamt mehr als 4.700 Verkehrsunfälle untersucht und rekonstruiert.
Ein interdisziplinäres Forschungsfeld
Heute sind Unfallforschungsteams ein interdisziplinäres Netzwerk von Sicherheitsexperten. Diese schaffen und geben einzigartige Einblicke in die Ursachen realer Unfälle - und vergrößern dadurch das aus Labor-Crashtests gewonnene Wissen. Hinzu tritt die Nutzung
Von Datenanalysen nationaler und regionaler Verkehrsstatistiken, um ein noch eingehenderes Verständnis zu erhalten. „Ziel war und ist es, den Straßenverkehr sicherer zu machen, indem diese Informationen zur Verbesserung des zukünftigen Fahrzeugdesigns genutzt werden“, kommentiert Anna Theander, die das Unfallforschungsteam bei Volvo leitet.
Obwohl die Unfallforschungsteams selbst keine Sicherheitssysteme entwickeln, gibt das Verständnis komplexer Unfallszenarien den Produktentwicklungsteams zusätzliche Kompetenz und größere Sicherheit, um Lösungen zu schaffen, die über das hinausgehen, was ursprünglich als notwendig erachtet wurde.
Umfangreiche Unfallberichte
Als die Mercedes-Unfallforschung im Frühjahr 1969 mit ihrer systematischen Arbeit begann, hatten Unfallanalysen in Deutschland noch Seltenheitscharakter. Erst 1970 beschloss der Deutsche Bundestag, bei der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) einen Bereich zu schaffen, der sich als zentrale Stelle mit den wichtigen Aufgaben der Unfallforschung beschäftigt.
So wurde ein Studienprojekt entwickelt, das ein Forscherteam der Technischen Universität Berlin und der Medizinischen Hochschule Hannover im Jahre 1973 startete und das noch immer läuft. Titel: „Erhebungen am Unfallort.“ Heute trägt es den Titel „GIDAS“ (German In-Depth Accident Study) und liefert jährlich Daten von rund 2000 Verkehrsunfällen, die sich im Umkreis der Städte Hannover und Dresden ereignen. Heute sind die Unfallforscher jährlich rund 80 Mal auf Achse, um schwere Karambolagen unter ihre wissenschaftliche Lupe zu nehmen.
Die Arbeit der Forscher beginnt meist am Ort des Geschehens: Wie hat sich der Unfall ereignet? Welche Stellung hatten die Fahrzeuge nach dem Aufprall? Gibt es Brems- oder Schleuderspuren? Wie stark hat sich die Karosserie verformt? Haben Airbag und Gurtstraffer ausgelöst? Gibt es Auffälligkeiten im Innenraum des verunglückten Mercedes-Modells? Welche Verletzungen erlitten die Insassen?
Fragen über Fragen, deren Antworten in einem 80-seitigen Unfallbericht festgehalten werden. Hinzu kommen Dutzende von Fotos, Skizzen und Zeugenprotokollen. Wenn schließlich alle Informationen vorliegen, erfolgt die systematische Rekonstruktion der Kollision. Dabei hilft den Forschern ein Computersystem, das die am Unfallort erhobenen Daten und Messwerte in bewegte Bilder verwandelt.
Dazu kombiniert der Rechner zum Beispiel die Länge der jeweiligen Brems- oder Schleuderspuren mit den Konstruktions- und Fahrdynamikdaten des verunglückten Mercedes-Modells und rekonstruiert auf diese Weise den Unfallhergang. Am Bildschirm erkennen die Fachleute dann, wie sich das Auto vor, während und nach der Kollision bewegte. Noch besser: Die Computersimulation ermöglicht es auch, den Unfall aus verschiedenen Perspektiven zu beobachten.
Die Ergebnisse werden schließlich mit den Daten anderer Unfälle verglichen, sodass die Automobilingenieure im Laufe der Zeit ein genaues Bild über typische Verletzungen bekommen und Erkenntnisse für die Entwicklung neuer, noch wirksamerer Schutzsysteme gewinnen.
Fokus auf Nutzfahrzeuge
Neben Volvo untersucht auch die Nutzfahrzeug-Unfallforschung bei Daimler deutschlandweit Unfälle von Mercedes-Benz Lkw, um daraus Maßnahmen für die aktive und passive Sicherheit abzuleiten. Dokumentiert werden grundsätzlich alle Informationen zum Unfallhergang, zu den beteiligten Fahrzeugen und zu den Schäden. Ebenso suchen die Unfallforscher nach Auffälligkeiten etwa in Bezug auf die Häufigkeit von Unfallarten, die Erkennbarkeit bestimmter Ablaufmuster oder die Verletzungen der Unfallbeteiligten.
Auf Basis dieser Analyse leiten die Unfallforscher Änderungsmaßnahmen ab, die in zukünftige Mercedes-Benz Anforderungen münden. So entstand vor einigen Jahren die Idee zum Abbiege-Assistenten, der bei Mercedes-Benz ab Werk für viele Lkw-Modelle auf dem Markt erhältlich ist.
Forschungen mit Fokus auf den Transportern gibt es ebenfalls schon seit den 70er-Jahren. Die verschiedenen Bereiche waren zunächst jedoch anderen Sparten zugeordnet. Seit Sommer 2015 hat auch Mercedes-Benz Vans eine eigene Unfallforschung. Vom Hauptquartier im Werk Untertürkheim aus untersuchen die Ingenieure ausgewählte Unfälle, in die Transporter von Mercedes-Benz verwickelt waren.