Winter in Norwegen : Mit 60 Tonnen über Schnee und Eis
Auf einem kleinen Flugplatz im norwegischen Wintersportort Trysil hat sich ein stattlicher Fuhrpark versammelt. 22 Lastwagen stehen fein säuberlich aufgereiht nebeneinander. Mit schmelzenden Schneemassen, wie zuletzt in den Alpen, hat man in Norwegen nicht zu kämpfen: Es ist klirrend kalt und das Flugfeld bis zur Unkenntlichkeit von einer dicken Schneeschicht bedeckt. Gäbe es kein Schild, dann würde hier niemand einen Flugplatz vermuten. Bis zum Frühling ist an einen Start oder eine Landung jedenfalls nicht zu denken.
Die Sonne taucht die weiße Winterlandschaft in gleißendes Licht und lässt die schneebedeckten Nadelbäume glänzen. In nur wenigen Stunden wird sie wieder untergehen. Bis dahin schafft sie es immerhin, die Luft auf Temperaturen von knapp unter null Grad zu erwärmen, ehe es mit der Dämmerung deutlich abkühlt. Die Tage im Winter sind kurz hier im Norden.
Einen Tower oder ein Flughafengebäude gibt es nicht, nur eine Holzhütte im typisch skandinavischen Farbton „Schwedenrot“. Im Aufenthaltsraum warten drei große Thermoskannen mit Filterkaffee auf Besucher.
Die Hütte dient als Basis für die Journalisten aus unterschiedlichsten Teilen Europas, die Scania hier für Winter-Testfahrten versammelt hat. Auf schnee- und eisbedeckter Fahrbahn will die schwedische Marke die Herausforderungen beim Fahren unter extremen Winterbedingen erlebbar machen und dabei die Funktion ihrer Assistenzsysteme im praktischen Einsatz demonstrieren. Der Instruktor mahnt eindringlich zur Vorsicht: „Es ist heute sehr rutschig – und wenn wir in Norwegen ‚rutschig‘ sagen, dann meinen wir: wirklich rutschig!“
Betriebsbremse statt Retarder
Die Fahrt auf eisglatter Fahrbahn erfordert ein Umdenken, vor allem beim Verlangsamen des Fahrzeugs. Meist bekommt man bei Fahrtrainings in den gemäßigten Klimazonen Mitteleuropas eingebläut, statt der Betriebsbremse stets die Motorbremse oder den Retarder zu nutzen. Beides ist verschleißfrei und auf längeren Gefällestrecken verhindert man damit ein Überhitzen der Bremsanlage. Auf Schnee und Eis ist das allerdings keine gute Idee: Die Dauerbremsanlage wirkt nämlich lediglich auf die Antriebsräder und damit läuft man Gefahr, dass das Fahrzeug außer Kontrolle gerät – vor allem, wenn man mit einem überlangen Gliederzug unterwegs ist. Unser 24 Meter langer Rungenzug ist mit Baumstämmen beladen, von acht Achsen sind nur zwei angetrieben. 57 Tonnen bringt das Ungetüm auf die Waage, 60 wären erlaubt. Damit bleiben drei Tonnen als Reserve, falls es schneit und der Schnee auf der Ladung liegen bleibt.
Um kein Risiko einzugehen, entkoppeln wir Retarder und Motorbremse von der Betriebsbremse. Letztere muss damit die Verlangsamung des Fahrzeugs alleine bewältigen, auch auf längeren Gefällestrecken. Außentemperaturen von bis zu minus neun Grad tragen immerhin zur Kühlung bei. Trotzdem gilt es ein Augenmerk darauf zu haben, dass die Bremsen nicht überhitzen.
Antriebsseitig macht sich der V8-Motor mit 770 PS bezahlt: solange der Zug in Bewegung bleibt, kommen wir auch bergauf zügig voran. Durch das automatisierte Opticruise-Getriebe der neuesten Generation hat sich auch die Zugkraftunterbrechung beim Schaltvorgang deutlich reduziert. Als wir jedoch an einer Kreuzung halten müssen, werden die Witterungsverhältnisse spürbar: wir kommen nicht mehr vom Fleck. Durch Entlastung der letzten Hinterachse haben wir bereits das gesamte Gewicht auf die davor liegende Triebachse verlagert, in Norwegen ist das erlaubt. Trotzdem bedarf es mehrerer Versuche, um den Zug wieder in Bewegung zu setzen. Mit einer Motordrehzahl von nur 500 Umdrehungen schaffen wir es schließlich, den Holzriesen vom Fleck zu bringen. Dass wir dazu die Differenzialsperre aktivieren müssen, versteht sich von selbst.
Vollbremsung im Schnee
Über Nacht hat es etwas geschneit und die Eisschicht auf der Straße ist von einer hauchdünnen Schneeschicht bedeckt. Wir wagen uns mit einem überlangen Gliederzug mit Kippmulden hinaus auf die Landstraße. Mein norwegischer Beifahrer wirft einen Blick in den Rückspiegel und fordert mich auf, eine Testbremsung einzuleiten. „Vollbremsung?“ frage ich lächelnd – angesichts unseres Gesamtgewichts von über 50 Tonnen und wenigstens 20 Metern Länge ein Scherz. „Ja, Vollbremsung!“, lautet die überraschende Antwort. Die Gesichtszüge des Mannes bestätigen mir, dass er es ernst meint. Ich hoffe er weiß, was er da verlangt – und trete ins Pedal. Das Fahrzeug bremst so heftig, dass es mich in den Gurt drückt. Der Trailer verzieht dabei keine Miene und bleibt schön in der Spur. Knapp vor dem Stillstand höre und spüre ich, dass einzelne Räder kurzfristig blockieren und nehme deshalb den Fuß wieder leicht von der Bremse. Dennoch ist der Bremsweg wesentlich kürzer, als ich mir das habe träumen lassen. Der Zug ist nach wie vor gestreckt und sauber in der Fahrspur geblieben. Diese Leistung des elektronischen Bremssystems, bei dem jedes Rad einzeln kontrolliert gebremst wird, ist erstaunlich. Hinzu kommen Winterreifen von Continental mit einer weichen Gummimischung, die speziell für diese Extrembedingungen gemacht sind: „Scandinavia“ heißt diese Reifenserie passenderweise.
Mein Beifahrer ist mit dem Bremsmanöver sichtlich zufrieden, was aber weniger an mir liegt als an den Straßenverhältnissen: „Heute sind die Bedingungen besser als gestern“, sagt er. Der frische Schnee sorgt offenbar für etwas mehr Grip, selbst wenn nur wenige Zentimeter darunter das blanke Eis die Straße überzieht. Wieder etwas gelernt.
Elektrisch durch den Winter
Scania verfügt über ein breites Kabinen- und Motorenprogramm für seine Lastwagen und Sattelzugmaschinen. Neben den herkömmlichen Sechszylinder-Reihenmotoren bauen die Schweden als einziger Serienhersteller nach wie vor V8-Motoren mit bis zu 770 PS Leistung. Alle Euro-6-Motoren können auch mit hydriertem Pflanzenöl (HVO) und fast alle mit dem Biodieselkraftstoff FAME betrieben werden. Gasmotoren für CNG oder LNG sind ebenfalls verfügbar. Im winterlichen Norwegen demonstrierte Scania außerdem die Einsatzfähigkeit seiner Elektrofahrzeuge bei Temperaturen unter dem Gefrierpunkt. Dazu waren drei batterieelektrische Serienfahrzeuge Scania BEV P25-Fahrgestelle vor Ort, in drei Aufbauvarianten mit Koffer, Kipper- und Abrollkipper. Außerdem konnte der Prototyp einer P40-Sattelzugmaschine in 6x2-Ausführung und rund 400 Kilowattstunden nutzbarer Batteriekapazität getestet werden. Damit sind emissionsfreie Reichweiten um die 400 Kilometer mit nur einer Vollladung bereits in greifbarer Nähe. Drehmoment und Fahrleistung sind, wie bei E-Fahrzeugen üblich, beeindruckend. Das Traktionsverhalten auf schneebedecktem Untergrund war überraschend gut. Aktuell ist man bei Scania dabei, die elektrische Modellpalette kontinuierlich zu erweitern und zusammen mit ausgewählten Kunden Pilotprojekte in Sachen E-Mobilität zu realisieren. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse und Erfahrungen sollen dem raschen Hochlauf von Produktion und Inverkehrbringung elektrifizierter Fahrzeuge dienen.