Sicherheit : Toter Winkel: Wie Abbiegeassistenten im Lkw Unfälle verhindern können

Abbiegeassistent

Gefahr beim Rechtsabbiegen: Verkehrsteilnehmer im toten Winkel sind für den Lkw-Fahrer schlecht sichtbar, wie hier der rot markierte Radfahrer in einer Visualisierung von Luis Technology

- © Luis Technology

Fahrer von Lastwagen können viele Bereiche rund um das Fahrzeug nur sehr schwer oder gar nicht einsehen. Immer wieder kommt es deshalb zu schweren Unfällen, insbesondere mit schwächeren Verkehrsteilnehmern wie Radfahrern und Fußgängern. Die meisten dieser Unfälle ereignen sich beim Rechtsabbiegen von Lkw, da der schlecht einsehbare Bereich - der sogenannte "tote Winkel" - rechts neben der Fahrerkabine am größten ist. Radfahrer und Fußgänger können deshalb beim Überqueren der Straße von einem rechtsabbiegenden Lkw leicht übersehen werden. Besonders gefährdet sind Menschen mit eingeschränkter Mobilität und Heranwachsende: Kinder werden aufgrund ihrer Körpergröße leicht übersehen und können darüber hinaus das Gefahrenpotenzial und Verhalten anderer Verkehrsteilnehmer schlecht einschätzen.

Aber auch viele Erwachsene sind sich der Problematik des toten Winkels offenbar nicht bewusst. Nicht selten riskieren Radfahrer, die sich vor der Ampel an einem Lkw rechts vorbeizwängen, damit ihr Leben. Die Verschuldensfrage bei einem Zusammenstoß ist letztlich zweitrangig, denn solche Unfälle enden nicht selten tödlich und der Verlust des Lebens ist juristisch unumkehrbar.

Wie funktioniert ein Lkw-Abbiegeassistent?

Ein Lkw-Abbiegeassistent dient der Unterstützung des Fahrers beim Rechtsabbiegen (in Großbritannien und anderen Staaten mit Linksverkehr beim Linksabbiegen). Er warnt dabei den Fahrer mittels eines optischen und akustischen Signals vor Verkehrsteilnehmern im sogenannten „toten Winkel“ neben dem Fahrzeug. Das soll vor allem besonders gefährdete Gruppen, wie Radfahrer und Fußgänger, schützen.

Im Fahrerhaus ist dazu in der Regel im Bereich der rechten A-Säule eine Warnlampe angebracht, die durch ein Tonsignal unterstütz wird. Bei Fahrzeugen mit elektronischen Außenspiegeln können die Warnsignale auch direkt über das Display der Spiegelkamera widergegeben werden. Manche Systeme können sogar selbstständig eine Voll- oder Teilbremsung einleiten. Zur Unterstützung des Assistenzsystems kann auch eine Videokamera angebracht werden, die den Bereich rechts neben dem Fahrerhaus auf einem Display im Cockpit zeigt. Es gibt auch Lösungen, die nur ein Videobild zeigen, aber keine optischen und akustischen Warnsignale abgeben. In diesem Fall spricht man aber nicht von einem Abbiegeassistenten im eigentlichen Sinn. Auch ist die effektive Sicherheit einer reinen Bildwidergabe fraglich, denn der Fahrer könnte das Bild leicht übersehen, wenn er nicht auf das Display schaut. Daher sind Warnlicht und Warnton essenziell für die Sicherheit.

Technisch gesehen wirken bei einem Abbiegeassistenten meist mehrere Sensoren zusammen. Radar- und/oder Lidarsensoren scannen den Bereich neben dem Lkw. Eine Software verarbeitet die Informationen der Sensoren und prüft, ob es sich bei etwaigen Objekten um Verkehrsteilnehmer oder andere Dinge – etwa Bäume, Hydranten, Elemente der Verkehrsinfrastruktur wie Schilder und Pylonen oder sonstiges – handelt. Unterstützt wird diese Auswertung oftmals durch ein Bildanalyseverfahren anhand eines Videobildes des relevanten Bildausschnitts neben dem Fahrzeug. Wenn die Software zu dem Ergebnis gelangt, dass es sich um einen Verkehrsteilnehmer handelt und Kollisionsgefahr besteht, dann wird die entsprechende Warnkaskade aus optischen und akustischen Signalen ausgelöst.

Diese Nachrüstlösung von Kress besteht nur aus einer Kamera für den toten Winkel und einem Monitor rechts an der A-Säule. Sie kann in jedem beliebigem Lkw nachgerüstet werden

- © Kress

OEM-Lösungen und Nachrüstsysteme

Es gibt grob gesagt drei unterschiedliche Typen von Abbiegeassistenten. Der erste Typ lässt sich am besten als vollintegrierte Lösung oder OEM-Lösung bezeichnen: Der Abbiegeassistent ist Bestandteil des Fahrzeugs und wird vom OEM selbst angeboten und vollständig in die elektronische Architektur des Lkw integriert. Alle Sensoren und Anzeigen des Systems sind im Cockpit fest verbaut und die Steuerung in die Bedienung des Lkw integriert.

Die zweite Lösung kann man am ehesten als teilintegrierte Lösung umschreiben: Spezialisierte Anbieter von Totwinkel-Assistenzsystemen verbauen die Sensoren, teilweise sogar schon vor Auslieferung des Neufahrzeugs in Abstimmung mit dem OEM. Die Anzeige wird fest im Armaturenbrett der Kabine integriert – also etwa eine Warnlampe oder auch eine mögliche Bildwidergabe und ein Tonsignal über das Infotainmentsystem.

Lösung Nummer 3 ist eine von der Fahrzeugarchitektur völlig getrennte Variante: Sensoren werden extern angebracht, die Anzeige im Fahrzeug erfolgt über ein Zusatzdisplay, ähnlich wie bei einem externen Navigationssystem. Oftmals bestehen diese Systeme lediglich aus einer Kameraeinheit, die seitlich rechts am Lkw angebracht wird, und einem Display für den Fahrer. Diese Lösungen sind tendenziell kostengünstig und lassen sich in Lkw jeden Typs und jeder Bauart beliebig nachrüsten.

Sensoren bei der integrierten OEM-Lösung von Daimler Truck seitlich am Fahrzeug
Bei dieser integrierten OEM-Lösung von Daimler Truck sind die Radarsensoren seitlich am Fahrzeug fest verbaut - © Ludwig Fliesser

Ab dem 6. Juli 2022 ist ein integrierter Abbiegeassistent in der EU verpflichtend für alle neuen Lkw- und Bus-Typen über 3,5 Tonnen vorgeschrieben (Klassen M2, M3, N2 und N3). Das betrifft aber zunächst nur die Homologation neuer Modellreihen. Bestehende Lkw- und Bus-Modelle dürfen weiterhin verkauft und ohne Abbiegeassistenten ausgeliefert werden und zwar bis zum 7. Juli 2024.

Für die Nachrüstung von Abbiegeassistenzsystemen gibt es Fördermöglichkeiten: In Deutschland sind das aktuell zwei nationale Förderprogramme, das DE-mimimis und das AAS.Die Antragsfrist für ASS endet am 22. November, die Antragsfrist für DE-minimis endet am 30. September 2022. In Österreich ist die SCHIG für Förderanträge zuständig. Die Kosten für Bestands- und Neufahrzeuge werden in einer Höhe von bis zu 900 € pro neu installiertem System gefördert.

Was kann man noch gegen den toten Winkel tun?

Abgesehen von elektronischen Assistenzsystemen zur Warnung von Verkehrsteilnehmern im toten Winkel kann auch die direkte Sicht durch ein entsprechendes Fahrzeugdesign verbessert werden. Erreicht werden kann dies durch eine möglichst tiefe und weit vorne liegende Sitzposition, große Fensterfronten und tiefgezogene Fensterlinien mit möglichst wenig Sichtbehinderung durch Konstruktionselemente des Fahrzeugs (etwa die A-Säule oder wuchtige Seitenspiegelgehäuse). Drüber hinaus bietet sich auch eine Verglasung im unteren Bereich der Beifahrertüre an, um hierdurch einen besseren Blick auf Personen und Fahrzeuge direkt neben der Kabine zu ermöglichen.

Auch in Deutschland gibt es AAS- und DeMinimis-Förderungen für Abbiegeassistenten. Die Grafik weist den Weg zum richtigen Förderprogramm

- © Bundesamt für Güterverkehr

Die sogenannte „Klarsichterfordernis“, also eine Verbesserung der „direkten Sicht“ des Lenkers in Nutzfahrzeugen, wird Mitte 2023 für alle neuen Typen (Homologation) und 2026 für alle neuzugelassenen Lkw und Busse in der EU verpflichtend. In der Hauptstadt des Vereinigten Königreichs, London, gilt bereits seit 2020 der sogenannte „Direct Vision Standard“. Fahrzeuge über 12 Tonnen Gesamtgewicht, die in die Metropole einfahren wollen, benötigen als Mindestanforderungen einen Stern in der Bewertung für die Direktsicht. Lastwagen, die diese Anforderung nicht erfüllen können, müssen mit einem elektronischen Assistenzsystem ausgerüstet sein – sprich: einem Abbiegeassistenten.

Das optionale Abbiege-Assistenzsystem "Active Sideguard Assist" von Mercedes-Benz Trucks ist vollständig in die Fahrzeugarchitektur integriert und kann sogar eine automatisierte Bremsung einleiten. Im Video wird erklärt, wie das funktioniert