Fernverkehr : Der neue Actros rollt an

© Ludwig Fliesser

Wo einst klobige Außenspiegel die Sicht des Fahrers auf den Querverkehr einschränkten und für ordentlich Luftwiderstand sorgten, sind beim neuen Actros nur noch zwei dezente Ärmchen über den Seitenfenstern zu sehen. Wie die Fühler eines Schmetterlings ragen die einklappbaren Halter für die Spiegelkameras seitlich vom der Kabine weg.

Wir konnten den neuen Actros auf einer Strecke von rund 180 Kilometer in der Nähe von Barcelona testen. Die hohen Kontraste zwischen Licht und Schatten, welche die gleißende Sonneneinstrahlung der Mittelmeerregion hervorbringt, stellten hohe Anforderungen an die Spiegelkameras und die Bildschirme im Fahrzeug. Das elektronische System konnte dabei vollends überzeugen: Die Displays an den A-Säulen, die das Umgebungsbild widergeben, brachten zu jeder Zeit ein klares Bild hervor. Trotz extremer Lichtsituationen war die Fahrzeugumgebung deutlich zu erkennen. Auch in Tunnels lieferten die Kameras ein gutes Bild der Verkehrsumgebung, die Sichtbarkeit ist dank Restlichtverstärkung sogar besser als bei herkömmlichen Spiegeln.

Als besonders praktisch in Kreisverkehren und engen Kurven erwies sich die Auflieger-Verfolgung: In der Biegung schwenkt die Spiegelkamera mit und behält automatisch immer das Ende des Trailers im Blickfeld. Bei herkömmlichen Spiegeln müsste der Fahrer hingegen den Blick auf den Weitwinkel-Spiegel richten, um das Ende des Trailers noch sehen zu können. Ebenso praktisch sind die Abstandslinien im Spiegeldisplay, die beim setzen des Blinkers im Sichtbereich neben dem Fahrzeug eingeblendet werden: Der Lenker kann anhand der Linien im Videobild sehr gut abschätzen, wie weit ein herannahendes Fahrzeug noch entfernt ist. Damit gleicht das System auch die fehlende räumliche Information der Kamera aus: Das räumliche Sehen des Menschen basiert auf dem Stereo-Prinzip, also der Überlagerung der Bilder des rechten und des linken Auges. Auch bei herkömmlichen Spiegeln fällt es schwer, Distanzen richtig einschätzen zu können. Deutlich wird dies beim Überholen anderer Fahrzeuge mit einem Sattelzug: Oft ist es nicht leicht einzuschätzen, wann das Ende des Aufliegers am überholte Auto vorbei ist. Auch mit der Spiegelkamera wäre das schwierig, denn hier ist sogar nur eine Kamera pro Seite verbaut, der Stereo-Effekt verschwindet dadurch vollkommen. Allerdings kann der Lenker anhand der eingeblendeten Hilfslinien im Display nun deutlich erkennen, ob er das Fahrzeug überholt und einen ausreichenden Sicherheitsabstand zum wiedereinscheren erreicht hat. Und auch beim Rückwärtsfahren bietet die Rangieransicht eine gute Übersicht, wobei eine einstellbare Hilfslinie im Display das Ende des Aufliegers für den Fahrer markiert: So kann dieser den verbleibenden Abstand hinter dem Fahrzeug gut einschätzen und sich bis auf wenige Zentimeter an die Rampe herantasten.

Notbremsassistent ABA 5

Mercedes-Benz setzt mit dem neuen Actros auch neue Maßstäbe bei der Sicherheit: Der Notbremsassistent „Active Brake Assist“ (ABA) wurde nochmals verbessert und schafft in der Version ABA 5 innerhalb der Systemgrenzen eine Vollbremsung auf stehende Hindernisse aus 90 km/h bis zum Stillstand. Außerdem kann der ABA 5 auch für Fußgänger selbständig eine Vollbremsung einleiten – ein absolutes Alleinstellungsmerkmal von Daimler. Der Notbremsassistent arbeitet in mehreren Stufen: Zunächst wird der Fahrer optisch mit einer Anzeige im Display und akustisch mittels Ton gewarnt. Erfolgt keine Reaktion, dann leitet das System zunächst eine Teilbremsung ein. Setzt der Lenker immer noch keine Aktion, bremst das Fahrzeug selbstständig bis zum Stillstand und aktiviert zugleich die Warnblinkanlage als Signal für den nachfolgenden Verkehr.

In einer internen Analyse hat Daimler sich die Jahre 2017 und 2018 näher angesehen und die Daten aus insgesamt 95.000 Mercedes-Lkw in Europa ausgewertet. Die Fahrzeuge hatten in diesem Zeitraum insgesamt rund 10 Milliarden Kilometer absolviert, 15 Millionen Mal wurde der Notbremsassistent aktiv (Warnstufe). In einer Million Fälle griff das System in die Bremse ein und zehntausendmal kam es zu einer Vollbremsung. Zudem gab es 150.000 Fälle mit einer Warnbremsung auf Fußgänger. Selbst wenn vielleicht nicht jeder dieser Vorgänge zu einer Kollision geführt hätte, verdeutlichen diese Zahlen, dass der Notbremsassistent in der Lage ist, Unfälle statistisch signifikant zu reduzieren.

Abbiegeassistent

Ein Radarsensor überwacht permanent den Bereich rechts neben dem Fahrzeug über die gesamte Länge des Lkw-Zugs und bis einen Meter dahinter hinaus. Kommt ein Objekt, wie ein Auto oder ein Radfahrer, in diesen Bereich, dann erscheint ein oranges Warndreieck direkt im rechten Seitenspiegeldisplay. Setzt der Lenker den Blinker, dann wird das Symbol rot und es ertönt ein lauter Warnton. Der Assistent hilft dadurch, Rechtsabbiegeunfälle mit Fußgängern und Radfahrern mit meist fatalem Ausgang zu verhindern. Er ist aber auch im fließenden Verkehr hilfreich und warnt beim Spurwechsel nach rechts vor Fahrzeugen auf der Nebenspur. Irgendwelche negativen Auswirkungen oder Fehlauslösungen waren bei unserer Testfahrt nicht feststellbar.

Teilautomatisiertes Fahren

Highlights im neuen Actros sind der aktive Spurhalteassistent und der Active Drive Assist, der das teilautomatisierte Fahren nach Level 2 ermöglicht. Die Basis beider Assistenten bildet die neue, elektromechanische Lenkung. Die Spurerkennung erfolgt über eine mittig unter der Windschutzscheibe angebrachte Kamera. Überschreitet das Fahrzeug die Fahrspurbegrenzungslinien, lenkt es der Spurhalteassistent aktiv in die Spur zurück. Vorausschauender agiert der Active Drive Assist (ADA) in Verbindung mit dem Abstandsregeltempomaten (Predictive Cruise Control-PPC). Der ADA hält den Lkw optimal in der Spur, der Fahrer muss allerdings die Hand am Lenkrad belassen. Zu spüren sind dabei minimale Korrekturbewegungen, die den Truck wie von Geisterhand auf Kurs halten. Das Gelungene daran ist, dass der ADA unaufdringlich arbeitet und der Fahrer den Assistenten jederzeit problemlos übersteuern kann. Wird man beispielsweise von einem anderen Lkw überholt und möchte diesem etwas mehr Platz einräumen, dann lenkt man einfach weiter an den rechten Rand der Fahrspur. Der ADA erkennt den Lenkeingriff und leistet keinen Widerstand, deaktiviert sich aber auch nicht. Sobald man den Griff der Lenkhand wieder lockert, steuert der Assistent das Fahrzeug wieder in die Mitte der Fahrspur zurück. Vor allem auf langen, monotonen Strecken kann das System seine Stärken voll ausspielen und erleichtert das Fahren deutlich. Nur bei stärkeren Kurven ist manchmal ein kurzer Lenkeingriff des Fahrers nötig, um das Fahrzeug in der Spur zu halten.

Predictive Powertrain Control

Die vorausschauende Steuerung des Antriebsstrangs „Predictive Power Train Control“ (PPC) stimmt Motorleistung und Schaltung auf die Geländebeschaffenheit ab. Mit der Einstellung „PPC interurban“ nutzt der Lkw das GPS-Signal und die Karteninformationen im Fahrzeug sogar, um die Geschwindigkeit auch selbstständig an die Straßenführung anzupassen. In der Praxis bedeutet das: PPC reduziert automatisch die Geschwindigkeit vor einer Kurve und beschleunigt danach wieder. Selbst Kreisverkehre können so ohne jede Betätigung der Pedale durchfahren werden. Der Fahrer wird dadurch im wahrsten Sinn des Wortes zum Lenker.

Besonders eindrucksvoll arbeitet „PPC interurban“ auf kurvigen Landstraßen, wie wir auf einer Bergstrecke mit Serpentinen und 180-Grad-Kehren selbst erleben durften. Der Lkw beschleunigt, bremst und schaltet vollkommen selbstständig, wobei das System nicht nur auf den Retarder sondern auch auf die Betriebsbremse zurückgreift. So muss sich der Fahrer lediglich auf das Lenken des Vehikels und etwaigen Querverkehr konzentrieren – alles andere erledigt PPC. Den höchsten Level der Automatisierung erreicht das System auf der Autobahn in Verbindung mit dem ADA, wobei sich dann sowohl die Lenkung als auch die Geschwindigkeit in Abhängigkeit von Streckenführung und vorausfahrenden Fahrzeugen selbst regelt. Dabei darf jedoch nicht vergessen werden, dass es sich nur um Assistenzsysteme handelt: der Fahrer hat zu jeder Zeit die volle Kontrolle und Verantwortung für das Geschehen und auch auf querenden Verkehr nimmt das System keine Rücksicht.

Innovationen mit Mehrwert

Die elektrischen Außenspiegel senken Luftwiderstand und Kraftstoffverbrauch, bei gleichzeitig verbesserter Sicht durch Trailer-Verfolgung und Rangiermodus. Der Notbremsassistent ABA 5 und der Abbiegeassistent können Unfälle vermeiden und erhöhen die Sicherheit im Straßenverkehr. Die Abstimmung der Schaltstrategie und Geschwindigkeit durch Predictive Powertrain Control spart zusätzlich Sprit. Der Active Drive Assist hilft dem Fahrer auch bei langen, monotonen Strecken das Fahrzeug sicher in der Spur zu halten, der Lenker ermüdet dadurch nicht so schnell. Und auch in puncto Fahrzeugverfügbarkeit hat Mercedes durch Vernetzung und den Dienst „uptime“ – die Echtzeitüberwachung aller Fahrzeugsysteme und vorausschauende Behebung sich ankündigender Probleme – einen echten Mehrwert für seine Kunden geschaffen.