Interview : Wirtschaft, Logistik und Corona: Wege aus der Krise
TRAKTUELL: Das Thema Corona beherrscht das Land und ganz Europa. Manche meinen, wir seien noch mitten in der Krise, andere glauben diese schon überwunden und nicht wenige fürchten, dass uns das Schlimmste noch bevorsteht, auch in Hinblick auf sogenannte Kollateral- und Folgeschäden.
Sebastian Kummer: Die Kollateral- und Folgeschäden sind sicher noch vor uns, zumindest die Sichtbarkeit dieser Schäden. Es sind schon viele eingetreten und wie sich das weiterentwickelt, ist schwierig zu beurteilen. Die größte Wahrscheinlichkeit ist, dass die Regierungen weiter versuchen werden, das Land – oder die Länder, es geht ja nicht nur um Österreich – durch einen ständigen Zufluss von Geld am Leben zu halten und dadurch die Wirtschaft zu fördern. Die Frage ist, wie lange das gut gehen kann. Gemäß der normalen wirtschaftswissenschaftlichen Theorie müsste es eigentlich zu einem Inflationsschub kommen. Ich bin natürlich optimistisch und ich glaube, dass die Staaten versuchen werden, die Mittel langsam runterzufahren. Wenn man das geschickt macht, könnte das dazu führen, dass wir aus der Krise einigermaßen gut herauskommen. Wirtschaftlich.
TRAKTUELL: Ein großes Problem, das wir schon in der Wirtschaftskrise 2007/2008 gesehen haben, ist, dass es viel mehr Geld gibt, das nur digital vorhanden ist, als tatsächlich in der realen Wirtschaft unterwegs ist. Das macht die Weltwirtschaft sehr anfällig für Blasenbildungen.
Sebastian Kummer: Ja, genau. Die gefährlichste Inflation ist eigentlich die Asset-Inflation, also die Inflation in den Finanztiteln und anderen Anlagen, zum Beispiel Immobilien. Es ist auch schwierig, das Geld in die Realwirtschaft hineinzubringen. Man sieht das ja auch in Japan und anderen Ländern, dass das eben nicht ankommt. Die Amerikaner versuchen das im Augenblick mit Direktzahlungen an die Haushalte, das wäre sicher eine Möglichkeit.
TRAKTUELL: Helikoptergeld?
Sebastian Kummer: Mit richtigem Helikoptergeld. Ich finde das nicht so gut, aber ich bin auch mehr Logistiker als Ökonom. Aber für die Unternehmen ist das eine wichtige Frage, weil sie sich jetzt darauf einstellen müssen, wie die Entwicklung im nächsten Jahr aussehen wird. Ich bin gemäßigt optimistisch, dass wir im kommenden Jahr ein Wachstum sehen werden. Die Prognose für 2020 ist ein Wirtschaftsrückgang. Ich könnte mir aber vorstellen, dass die Wirtschaft noch etwas aufholt und wir heuer nur noch sieben Prozent Rückgang haben im BIP, so dass wir in den nächsten beiden Jahren mit zweimal 3,5 Prozent Wachstum wieder das Vorkrisenniveau erreichen. Nicht in allen Branchen, aber in der Gesamtschau schon (Anm.: Einschätzung Anfang Oktober 2020, vor Verkündung der umfangreichen Lockdown-Maßnahmen für November).
Die Frage ist eigentlich eher, ob das Modell der österreichischen und deutschen Exportwirtschaft noch so funktioniert. Einige Experten sind der Meinung, dass wir nicht mehr so stark exportieren können. Und das wäre natürlich für die deutsche und die österreichische Wirtschaft dramatisch. Das Gleiche gilt für die Automobilindustrie. Wobei ich denke, dass die Automobilindustrie mittelfristig einer der Gewinner der Krise sein wird, weil die Leute nicht so schnell aufs Auto verzichten werden, als wenn die Krise nicht gekommen wäre. Die Menschen merken doch, dass sie im Grunde genommen in so einer Krise auf das Auto angewiesen wären. Es wird keine Riesen-Wachstumsraten geben, aber ich glaube, dass wir positive Entwicklungen sehen, und das ist eben auch für die Gesamtwirtschaft sehr wichtig. Daran hängen Zulieferer und letztendlich auch viele Logistikdienstleister. Sehr kritisch ist hingegen die Lage im Einzelhandel durch die Verschiebung hin zum Online-Shopping. Wenn die Leute erst einmal gesehen haben, wie komfortabel das im Internet ist und welche Auswahl sie haben, dann glaube ich, dass wir da im Einzelhandel nicht wieder zurückkommen. Zumal wir in Deutschland und Österreich im Vergleich zu anderen Ländern beim E-Shopping hinterher waren und jetzt nur aufgeholt haben.
TRAKTUELL: Dass wir beim Online-Shopping hinterher waren, hat man am mangelnden Angebot abseits von Amazon deutlich gesehen. Es war für viele Konsumenten, selbst diejenigen, die Amazon möglicherweise aus politischen Motiven ablehnen, fast unmöglich, auf einen anderen Online-Dienst auszuweichen. Weil es schlicht und einfach nichts Vergleichbares gibt.
Sebastian Kummer: Ja. Ich bin überhaupt kein Amazon-Fan. Ich finde den Service sehr gut, aber ich finde zum Beispiel den traditionellen Buchhandel viel schöner. Aber das Serviceniveau, das Amazon bietet, ist sensationell, fast beängstigend. Und viele der Argumente gegen Amazon sind eigentlich nicht begründet. Beispielsweise dass Amazon so viel bezahlt wie Logistikdienstleister im Lager – dann müsste man ja auch sagen, jeder Logistikdienstleister ist ein schlimmes Unternehmen, und das würde ich natürlich nicht unterschreiben. Ich sehe die Hauptgefahr in der Monopolisierung und das kann man Amazon nicht vorwerfen, dass es das marktstärkste Unternehmen ist und versucht zu wachsen und gute Services anzubieten. Es wird in den USA diskutiert, ob man Amazon aufspalten kann. Amazon ist ja nicht nur ein Handelskonzern, sondern auch sehr stark bei Cloudlösungen. Und Amazon ist ebenso Logistikdienstleister. Wir sind noch weit davon entfernt, dass die in diesem Bereich eine große Marktmacht hätten. Aber wenn sich Amazon weiterentwickelt und viele Bereiche beherrscht, wäre das kritisch. Deshalb ist aber nicht Amazon böse oder schlecht, sondern wenn wir das nicht wollen, dann muss man regulatorisch eingreifen. Aber eben auch mit fairen Regularien. Es kann nicht sein, dass jemand, der einen guten Job macht, als Unternehmen bestraft wird, weil die anderen schlechter sind.
TRAKTUELL: Aber ist ein regulatorischer Eingriff realistisch angesichts der Strukturen in Europa, wo die Staaten sich untereinander Konkurrenz machen und es nicht einmal gelingt, dass man Amazon überhaupt vernünftig besteuert?
Sebastian Kummer: Wir müssen eine Lösung dafür finden, dass auch große amerikanische Unternehmen wie Amazon oder Apple einen Teil der Steuern in den jeweiligen Ländern zahlen und nicht alles über irgendwelche Firmen verschoben wird. Aber das ist eine fiskalpolitische Aufgabe. Ich finde das wirklich erschreckend dass sich die Politik nicht konsequenter dafür einsetzt – nicht in den Sonntagsreden, sondern wirklich. Man kann das den Unternehmen nicht vorwerfen, eigentlich müssten wir es unseren Politikern vorwerfen. Da ist einiges zu tun, obwohl das Phänomen lange bekannt ist. Und jetzt fangen die europäischen Unternehmen auch an mit diesen Sachen, dass sie auf den niederländischen Antillen irgendwelche Holdings haben und dort die Gelder sammeln. Es sind ja nicht nur die amerikanischen Unternehmen.
TRAKTUELL: Die Corona-Pandemie war auch ein Stresstest für die Weltwirtschaft und die global vernetzten Produktions- und Logistikketten. Was können wir aus dieser Erfahrung lernen? Was hat gut funktioniert und wo kamen Schwachpunkte ans Licht?
Sebastian Kummer: Die Logistik hat sich bewährt, aber ich habe das Gefühl, dass sie dieses positive Image nicht über die Krise hinwegretten und nutzen kann. Am Höhepunkt der Krise haben alle gelobt, wie toll das funktioniert. Wegen der Hamsterkäufe gab es einmal zwei Tage lang kein Klopapier in den Geschäften, aber binnen kürzester Zeit war wieder alles verfügbar. Und alle haben anerkennend gesagt: „Was für eine Leistung!“. Kurzfristige Nichtverfügbarkeit bei Hamsterkäufen kann man nicht verhindern und es liegt auch nicht an den Logistikdienstleistern, sondern eher an der Nachschichtung in den Geschäften. Es ist auch nicht sinnvoll, sich auf so eine Spitze einzustellen. Die Logistik hat gegenüber der Gesellschaft eine extrem gute Leistung gezeigt, es ist auch honoriert worden am Höhepunkt der Krise, aber das Vergessen ist eben sehr schnell.
Die Lehren, die ich aus der Krise ziehe, sind, dass wir zusätzlich zur starken Flexibilität in den logistischen Systemen, durch die man schnell auf Nachfragerückgänge in der Krise sowie ansteigende Nachfrage danach reagiert hat, noch widerstandsfähiger werden müssen. Wenn wir über Supply-Chains reden, dann müssen wir diese also noch etwas umgestalten.
Bei der Transport- und Logistikleistung ist die Herausforderung, dass der Bahnverkehr in der Krise zurückgegangen ist und ich nicht sicher bin, dass der überhaupt wiederkommt. Bahnverkehre reagieren sehr viel sensibler auf Schwankungen, denn sie brauchen eine gewisse Regelmäßigkeit des Bedarfs. Mit dem Lkw kann ich Schwankungen viel besser ausgleichen, sowohl zeitlich als auch mengenmäßig. In der Krise selber war das unvorhersehbar praktisch. Ich glaube, dass wir uns in Österreich einmal ganz ehrlich überlegen müssen, was wir mit der Bahn machen. Meine persönliche Meinung dazu ist: Alle Kraft dem Personenverkehr. Wenn die Regierung das 123-Ticket will, muss man die Kräfte auf den Personenschienenverkehr bündeln und den Güterverkehr da, wo es Sinn macht, forcieren, zum Beispiel bei Stahlverkehren oder Containerhinterlandverkehren. Dieses zwanghafte Verlagerungsdogma und schon gar die Fantasie, den Modal Split auf 40 Prozent zu steigern, davon sollte man sich verabschieden. Und dann müsste die Regierung sagen: Wenn wir den Lkw-Verkehr brauchen, dann sollten wir ihn möglichst umweltfreundlich abwickeln. Das wäre meine Empfehlung für den Gesamtverkehrsplan: Digitalisierung voranzutreiben und klar definieren, welche Transporte wir in der Bahn haben wollen, und dieses Dogma „Mehr Bahn ist besser als weniger Bahn“ aufgeben. Und dann müsste man die ökologische Umstellung des Lkw-Fuhrparks fördern. Meine persönliche Meinung ist, dass wir auf Mittelstrecken im Schwerlastverkehr Gas-Lkw als Zwischenlösung nehmen und langfristig wahrscheinlich Wasserstoff einsetzen. In der Distribution, also in städtischen Bereichen, kann man stark auf batterieelektrische Lösungen setzen. Ob auch da irgendwann der Wasserstoff sinnvoll ist, wird sich dann zeigen. Der Zwischenschritt mit dem Gas erscheint mir in der Distributionslogistik nicht unbedingt notwendig, aber bei den 40-Tonnern würde ich das machen. Und wenn man kein Gas will, dann sollten wir zumindest die umweltfreundlichen Fahrzeuge fördern. Das betrifft auch die aktuelle Mautdiskussion. Die Euro-6-Fahrzeuge sollen hochgesetzt werden mit der Maut und wenn man sich das historisch anschaut, ist es unverständlich, dass die umweltfreundlichen Fahrzeuge eigentlich die meisten Steigerungen haben.
TRAKTUELL: Einige systemrelevante Bereiche haben sich in der Krise als etwas fragil herauskristallisiert. Insbesondere die Versorgung mit Medizingütern und Schutzausrüstung, prominentes Beispiel waren die Masken. Auch die mangelnden Produktionskapazitäten für medizinische Güter, die es in Europa gibt. Nun wird die Forderung nach mehr Protektionismus laut, um solche Engpässe künftig zu vermeiden. Gleichzeitig erleben wir auch ein Wiedererstarken des Nationalismus. Internationale Organisationen und nicht zuletzt suprastaatliche Zusammenschlüsse wie die EU verlieren an Einfluss. Ist das der richtige Weg?
Sebastian Kummer: Das finde ich absolut den falschen Weg und das ist auch unehrlich. Das Problem war nicht, dass die Produktionskapazitäten nicht vorhanden waren, sondern dass man die Bestände nicht anständig gepflegt hat. Wenn in Italien zum Beispiel die Altersheime keine Schutzausrüstung haben oder auch die Krankenhäuser, dann ist es irrelevant, wo die Ausrüstung gemacht wird. Und die Frage ist: Wo sollen wir denn überall Überkapazitäten vorhalten? Soll jedes Land das machen? Ich glaube, dass wir die in der globalen Wirtschaft viel besser haben. Öl zum Beispiel haben wir ja auch nicht, wir haben dafür strategische Vorräte. Und man sieht, dass die Versorgung mit Masken mittlerweile überhaupt kein Problem ist. Das war vielleicht zwei, drei Monate ein Problem und eigentlich nur im medizinischen Bereich. Das war rein mangelnde Vorratshaltung. Ich glaube also, dass es besser wäre, Bestände anzulegen: Gegen eine Spitzenbelastung ist ein Sicherheitsbestand immer das Beste. Wir wissen ja auch noch nicht, was die nächste Krise bringt. Soll Österreich auch Impfstoff- und Medikamentenproduktion aufbauen und was können wir noch alles machen? Auf nationaler Ebene geht das einfach nicht. Genau das Gegenteil ist der Fall, wir müssten eigentlich die internationale Zusammenarbeit stärken. Und es kann nicht im österreichischen Interesse sein, dieser Nationalismus. Beim Nationalismus bleiben die kleinen Länder zurück und Österreich ist ein kleines Land! Eine Möglichkeit wäre, auf europäischer Ebene zu sagen, wir wollen von bestimmten strategisch relevanten Produkten mehr Produktion in Europa haben, aber dabei ist die EU eher ein Trauerspiel. Anstatt dass sich die Länder innerhalb der EU einig sind, sind sie ja noch nicht einmal in der Lage, eine einheitliche Antwort auf die Pandemie hervorzubringen. Die Abstimmung kostet wenig, bringt aber viel: also beispielsweise einheitliche Reiserichtlinien und einheitliche Pandemierichtlinien. Aber der Gesundheitsbereich gilt noch immer als nationalstaatlicher Bereich. Wie übrigens auch die Finanzen. Das ist ja auch das Problem, das wir zuvor diskutiert haben. Die rationale Antwort müsste sein: Mehr Europa. Aber das wird es nicht geben. So ein kleines Land wie Österreich sollte sich daher sehr gut überlegen, wie es sich positioniert.
Ich glaube, Europa ist insgesamt auf einem Scheideweg. Man muss sich entscheiden: Sind wir eine Freihandelsunion, also eine reine Zollunion? Dann könnte man diese ganze gemeinsame Gesetzgebung wegschmeißen. Oder geht man in eine eher einheitliche Lösung. Leider ist da die österreichische Bundesregierung auch nicht so dafür. Ich bin für ein sogenanntes Schalen- oder Schichtenmodell: Die Benelux-Länder, die skandinavischen Länder, Deutschland und Österreich machen im Kern sehr einheitliche Regelungen, noch viel weiter gehend, als wir das bisher haben. Und um diesen Kern herum gibt es vielleicht eine Freihandelszone.
TRAKTUELL: Vielen Dank für das Gespräch!