Kommentar : Wenn die Lieferkette einem seidenen Faden gleicht

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„Wer zurzeit genau hinhört, könnte meinen, das Ende der großen Krise zu hören: ‚Aufschwung!‘, hallt es von den Dächern der Republik und darüber hinaus. Proportional zu den sinkenden Infektionszahlen steigt die Konsumfreude der Bevölkerung und damit die Konjunktur – zumindest wirtschaftlich scheint die Corona-Krise überwunden. Wer allerdings glaubt, dieser Weg aus einer monatelangen Rezession geht ohne Schwierigkeiten über die Bühne, liegt falsch. Rapide ansteigende Nachfrage muss für eine funktionierende Wirtschaft durch ein entsprechendes Maß an Angebot gedeckt sein. Trotz starken Wachstums in den Auftragsbüchern bestätigt eine Umfrage der Europäischen Zentralbank (EZB) eine Stagnation bei den Aktivitäten von Unternehmen, entstehend durch Engpässe an vielen Stellen.

Rohstoffknappheiten beeinflussen laut EZB-Umfrage vor allem Halbleiter, Metalle, Chemikalien und Plastik.1 Doch damit nicht genug: Eine solche erzwungene Unterproduktion fördert nicht nur Preiserhöhungen und eine damit einhergehende Inflation, sondern hat selbstverständlich auch Einfluss auf internationale Lieferketten sowie auf Logistikunternehmen, die sich auf ihre Funktionalität stützen. Massive Störung des Welthandels Über die Pandemie hinweg haben unterschiedliche Faktoren die internationalen Lieferketten an verschiedenen Stellen erodieren lassen. Personalausfall bei Logistikern, blockierte oder überstrapazierte Grenzübergänge sowie Quarantänen auf Containerschiffen und an Häfen haben eindeutige Schwachstellen im globalen Warenverkehr aufgezeigt, deren Nachwirkungen Logistiker und in letzter Instanz natürlich das produzierende Gewerbe immer noch spüren. Hinzu kommen auch virusunabhängige Faktoren wie der zuletzt vollzogene Brexit, die Blockierung des Suez-Kanals und der aktuelle Containerstau in China.

Vor allem letzter Punkt hat Schuld an einer für lange Zeit nicht dagewesene Störung des Welthandels. Im Reich der Mitte befindet sich mittlerweile der größte Knotenpunkt der globalen Logistik. Wenn nun allerdings einer der wichtigsten Häfen nur noch auf halber Kapazität läuft und Frachter im Schnitt 16 Tage auf einen Anlegeplatz warten, kann sich dies nur schlecht auf die restliche Lieferkette auswirken – von den zusätzlichen Kosten ganz abgesehen. Auswirkungen dieses Staus machen sich auch bereits in deutschen und europäischen Häfen bemerkbar:

Große Reedereien meiden bereits die Anlegeplätze in den wichtigsten Stationen Hamburg sowie Rotterdam und auch die deutschen Rheinhäfen klagen über verspätete Frachter. Von letzten Tropfen und überlaufenden Fässern Wie lange lässt sich ein von sich selbst abhängiges Konstrukt strapazieren, bis es nachgibt oder – um in der Metapher zu bleiben – reißt? Bis sich die beschriebene Stauung auf dem gesamten Erdball wieder auflöst, wird noch einiges an Zeit ins Land gehen müssen, zu dick erscheint der Knoten in der Lieferkette. Die weltweite Vernetzung, welche den globalisierten Handel zuvor über Jahrzehnte so stark machte, erweist sich nun als Katalysator für große Probleme. Wie der berühmte Schmetterlingseffekt beschreibt, reicht auch eine Störung ähnlich eines Flügelschlags aus, um am anderen Ende der Welt Chaos auszulösen. Laut Zahlen der EZB hat sich die Anzahl der Industrieunternehmen, die mit Lieferkettenproblemen kämpfen, von Mitte 2020 bis Januar 2021 auf fast 20 Prozent verdoppelt.2 Eine derartige Akkumulation von Störungen alltäglicher Abläufe könnte sich als der letzte Tropfen erweisen, der ein ohnehin bereits volles Fass an Lieferkettenproblemen zum Überlaufen bringt.

Egal wie lange es an chinesischen Häfen dauert oder wie sehr die Frachtkosten in die Höhe schießen – solange sich Ware in den Containern befindet, läuft auch der Handel weiter. Konnten Logistikunternehmen bislang immer noch nach diesem Prinzip reagieren und den Verkehr aufrechterhalten, stellt diese jüngste Entwicklung wohl einen endgültigen Schlussstrich dar: Um Produkte transportieren zu können, müssen diese auch erst produziert werden. Wirtschaftlicher Wellenbrecher Wo Deutschland zurzeit erst noch aus dem pandemischen Tief taumelt, haben die USA, aber vor allem auch China, die Kaufkraft schon in den letzten Monaten wieder hochgeschraubt. Da sich die deutsche Industrie derweil allerdings noch im Corona-Tiefschlaf befand, überraschte die explodierende Nachfrage auch die hiesigen Produzenten.

Dieser verpasste Einsatz könnte sich nun als Rattenschwanz durch den postpandemischen Aufschwung ziehen – ein wirtschaftlicher Wellenbrecher in der allgemein euphorischen Stimmung. Zusätzlich stellt der Bundesverband Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik keine Änderung dieser Situation in Aussicht und prognostiziert sogar anhaltende Engpässe bis zum Ende des Jahres 2022.3 Dass jede Verknappung immer Preissteigerungen nach sich zieht, die im nächsten Schritt so lange nach unten weitergegeben werden, bis sie den Endverbraucher erreichen, sollte niemanden mehr überraschen. Hinzu kommen noch nicht komplett vorhersehbare Folgen für Logistikunternehmen – leere Container und volle Fuhrparks verbleiben nicht mehr nur in der Fantasie ewiger Schwarzmaler. Kurz gesagt erwarten wir also eine Krise nach der Krise, die ähnlich schwer zu bewältigen sein wird wie die nun scheinbar vergangene. Zu einem ruhigen Status quo kommen Weltwirtschaft und internationale Logistik jedenfalls zunächst nicht.“